Jedes Lebewesen besteht aus unzähligen Zellen. Sie interagieren und kommunizieren miteinander, um den Körper und seine Prozesse im Gleichgewicht zu halten. Ihre Boten, so genannte extrazelluläre Vesikel, sind kompakte Informationseinheiten, die sich aus den Zellen lösen, sich im Organismus verteilen und Entwicklungsprozesse beeinflussen. Welche Rolle die Winzlinge, die in etwa so groß sind wie Viren, in der Krebsforschung spielen, erläutert Prof. Dr. Julia Groß, Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Zellbiologie (DGZ) und Prorektorin Forschung der HMU.
Frau Prof. Groß, was genau ist die Funktion extrazellulärer Vesikel?
Vesikel sind Zell-Kuriere, sie transportieren Informationen von einer Zelle zu einer anderen. Früher dachte man, sie seien ausschließlich dafür da, um Abfall aus den Zellen zu entsorgen. Das tun sie zwar auch, aber heute wissen wir, dass sie noch viel mehr bewirken: Abhängig von ihrer Beladung bringen sie verschiedene Botschaften zu ihren Zielzellen – und lösen dadurch komplexe Signalabläufe im Organismus aus. Für die Wissenschaft sind sie deshalb ein wichtiger Gradmesser bei der Frage, was gerade in einem Körper passiert.
Welche Folgen hat diese Art der Zellkommunikation für gesunde Menschen und was bedeutet sie für eine an Krebs erkrankte Person?
Grundsätzlich hält die Zellkommunikation unseren Organismus im Gleichgewicht. Durch sie finden im Körper unzählige chemische und physikalische Prozesse parallel zueinander statt. Entsteht beispielsweise eine Wunde, setzen die extrazellulären Vesikel durch ihre Signalübertragung die Wundheilung in Gang. Sie haben also ein hohes regeneratives Potenzial. Aber auch Tumorzellen kommunizieren über Vesikel. Durch unsere Forschung wissen wir heute, dass verschiedene Zellarten spezifische Vesikel erzeugen. Krebszellen senden z.B. Vesikel aus, die für die Metastasenbildung eine Rolle spielen – und sogar in der Lage sind, bestimmte Zellen des Immunsystems umzuprogrammieren, damit sie den Tumor schützen, anstatt ihn zu bekämpfen.
Wie kann dieses Wissen bei der Behandlung von Krebserkrankungen genutzt werden?
Je nachdem, wie die Vesikel beschaffen sind, kann man Rückschlüsse auf ihren Ursprung ziehen, also auf das Zellgewebe, aus dem sie ursprünglich stammen. Dafür erforschen wir Vesikel aus Zelllinien, Patientenmaterial und sogar aus der Fruchtfliege, um die verschiedenen Vesikel, ihre Beschaffenheit und Entstehungsart genauer zu charakterisieren. So konnten beispielsweise bestimmte Signalmoleküle mit der Entstehung von Krebs in Verbindung gebracht werden. Das Ziel unserer Forschung ist, durch den Nachweis bestimmter Vesikel bei Krebsuntersuchungen in Zukunft präzisere Informationen zu erhalten als mit bisherigen Biomarkern – und dadurch eine Krebserkrankung noch früher zu erkennen.
Das klingt noch sehr nach „Zukunftsmusik“…
Das stimmt. Aber die klinische Anwendung ist schon heute Gegenstand zahlreicher Forschungsprojekte auf der ganzen Welt. Beim Prostatakarzinom konnten wir bereits ein bestimmtes Protein identifizieren, das im Blutplasma von Patienten angereichert ist und wichtige Hinweise für Diagnose und Therapie liefert. Aktuell forsche ich gemeinsam mit meinem Kollegen Felix Grassmann an der HMU im Rahmen eines dreijährigen Brustkrebs-Projekts, um perspektivisch das derzeit übliche Brustkrebs-Screening durch zusätzliche individualisierte Risikoberechnung zu verbessern. Dafür werten wir Blutproben und Daten einer riesigen schwedischen Studie mit 70.000 Teilnehmerinnen aus.
Wo findet Ihre Forschung statt? Nur am Computer oder auch im Labor?
Sowohl als auch! Zu unserem Projekt gehört sowohl die Arbeit hier in Potsdam in unserem hervorragend ausgestatteten Labor als auch die statistische Aufbereitung und Auswertung am Rechner. Für beides bietet die HMU eine sehr gute Grundlage.
Herzlichen Dank für das Gespräch.
Forschungsinteressierte aufgepasst: In Potsdam bietet die HMU den Bachelorstudiengang Biomedizin an. Alle Informationen dazu gibt es hier.